Inmitten der Dominanz von Schlagzeilen über weltweite Krisen und bevorstehende US-Wahlen gerät in den Hintergrund, dass sich in Kanada ein Machtwechsel anbahnt. Justin Trudeau, einstiger Hoffnungsträger vieler Linksliberaler weltweit und Gegenpol zu Autokraten und Populisten, könnte vor seinem politischen Aus stehen. Vor neun Jahren gewann er mit nur 43 Jahren in einem fulminanten Handstreich die Parlamentswahl. Doch zwei unerwartete Niederlagen bei Regionalwahlen, in denen seine liberale Partei eigentlich Hausmacht hatte, markieren nur den vorläufigen Tiefpunkt einer ganzen Reihe von Rückschlägen, die der weltweit geachtete Trudeau hinnehmen musste. Aktuellen Umfragen zufolge unterstützen ihn derzeit nur noch 23 % der Kanadier, während sein konservativer Herausforderer Pierre Poilievre bei etwa 43 % Zustimmung liegt:

 

Oppositionschef Poilievre, ein im Vergleich zu Donald Trump relativ liberaler Konservativer aus der Provinz Alberta, hat sich zum Ziel gesetzt, den Klimawandel zu bekämpfen, mehr Unterstützung für die Ukraine im Konflikt mit Russland zu fordern und Abtreibungsrechte zu verteidigen. Vor einem Jahr gelang es ihm, die lange Zeit zerstrittene Konservative Partei wieder zu einen. Jetzt plant er, die Minderheitsregierung von Trudeau mit mehreren Misstrauensanträgen so früh wie möglich zu stürzen.

 

 

 

 

 

Diese Minderheitsregierung verfügt aber lediglich über 154 der 338 Sitze im Parlament, was sie der Tolerierung durch die linksgerichtete Neue Demokratische Partei (NDP) verdankt. Im Gegenzug hatte die NDP sich von den Liberalen wichtige soziale Themen ausgehandelt. Doch kürzlich entzog die NDP Trudeau ihre Unterstützung und erklärte, die Liberalen seien „zu schwach, egoistisch und zu sehr den Unternehmensinteressen verpflichtet, um für die Menschen zu kämpfen“. Sollte ein von den Konservativen eingebrachtes Misstrauensvotum auch von der NDP unterstützt werden, wären Neuwahlen die Folge, die Trudeau mit hoher Wahrscheinlichkeit verlieren würde.

Die öffentliche Meinung über Trudeau hatte sich bereits im Laufe des Sommers verschlechtert, als die Wähler mit einer Rekordinflation zu kämpfen hatten, die Miet- und Lebenshaltungskosten neue Höchststände erreichten und dem Land eine Rezession drohte. Auch die ohne jede Vorwarnung Ende Juni eingebrachte, handwerklich miserabel konzipierte Steuererhöhung bei der Capital Gains Tax hat viele, auch liberale Kanadier, extrem verärgert.

Quellen: TheWrit.ca, CNBC, TAVINA

Kanadas Wirtschaft wächst lediglich um 1,1%. Angesichts eines Bevölkerungswachstums von 3,2% Prozent ist dies zu wenig. Der Wohlstand Kanadas, gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, schrumpfte im zweiten Quartal 2024 um 0,1 % und damit im fünften Quartal in Folge. Viele Menschen wünschen sich einen Wechsel zu einer investorenfreundlicheren Angebotspolitik, die u.a. die Produktivität des Landes steigert, unnötige Transferleistungen reduziert und die Miet- und Lebenshaltungskosten in den Griff bekommt. Insgesamt muss nach Ansicht vieler Kanadier auch Kanadas neue Rolle als verlässlicher und starker Handels- und Bündnispartner in der neuen Weltordnung wesentlich stärker zur Geltung kommen.

Für die Liberalen besteht möglicherweise die einzige Chance darin, den Mann an der Spitze auszutauschen, wenn sie bis zu den Neuwahlen das Ruder noch herumreißen wollen. Erfahrene und wirtschaftskompetente Führungskräfte wie z.B. der ehemalige Gouverneur der Bank von England, Mark Carney, könnten die Liberalen evtl. noch aus ihrer Malaise befreien.